Flexible Oberstufe - Abi im eigenen Takt

Flexible Oberstufe in Deutschland?

Wir dürfen in Deutschland (fast) alles:

  • Es gibt den flexiblen Schulanfang in jedem Bundesland etwas anders geregelt, der es den Kindern ermöglicht ab z.B. einem Alter von 5 Jahren in das erste Jahr in der Grundschule zu gehen, auch wenn die Zahlen zur Zeit eher zurückgehen.
  • Es gibt die Möglichkeit die Verweildauer in der Grundschule und die Verweildauer in Sekundarstufe 1 flexibel zu gestalten. 
  • Es gibt selbstverständlich die Möglichkeit, die Verweildauer an der Universität flexibel zu gestalten und die Möglichkeit, Leistungen sukzessive zu erbringen - auch bei vielen Abschlussprüfungen an den Universitäten.

Nur das Abitur und die Verweildauer in der Qualifikationsphase der Oberstufe scheint hier eine Ausnahme zu bilden. Da ist festgelegt, wie viele Stunden man Mathe-Unterricht gehabt haben muss, da ist geregelt, wie viele Klausuren man geschrieben haben muss. Sogar dass nur Leistungen aus zwei Jahren angerechnet werden dürfen und natürlich eine zentrale Abschlussprüfung in allen Fächern gleichzeitig, ist festgelegt.  Muss das so sein? Ist das gerecht? Sind nur so die Leistungen vergleichbar?


Die neue Ländervereinbarung - ein Meilenstein? In welche Richtung?

Die Ländervereinbarung vom 15.10. 2020 der Kultusministerkonferenz feiern die Kultusminister und ihre Präsidentin Dr. Stefanie Hubig als “historischer Tag für die Bildung”. Zitat: "Die Menschen haben den Wunsch nach mehr Einheitlichkeit bei der Bildung und diesem Wunsch kommen wir nach"

Historisch mag der Tag sein, ein Meilenstein. Die Frage ist nur, ob es ein Meilenstein nach vorne oder nach hinten ist.  Die Menschen haben den Wunsch nach gerechten, vergleichbaren Abschlüssen. Viele auch in den Universitäten, Ausbildungsstätten und der Wirtschaft haben den Wunsch, dass vergleichbare Kompetenzen bei den jungen Leuten vorausgesetzt werden können. Haben sie wirklich den Wunsch nach einheitlichen Wegen?

Als Verkehrsteilnehmer hab ich ein Interesse, dass alle, die den Führerschein besitzen, die Straßenverkehrsordnung und ihr Vehikel beherrschen. Mir ist dabei nicht wichtig, ob eine dazu 8 oder ein anderer 25 Fahrstunden gebraucht hat.  Mir ist letztlich auch egal, ob er beim ersten Mal oder erst beim vierten Mal die Fahrprüfung bestanden hat. Haben die Menschen mehr Wunsch nach Einheitlichkeit, oder wollen die Menschen nicht möglichst viele - auch ganz verschiedene Wege, die am Ende ein vergleichbares Bildungsniveau beim Abitur erreichen lassen?

Wollen Eltern auch, dass ihre Kinder von Lehrer*innen unterrichtet werden, die möglichst ihre Fächer zur gleichen Zeit im Studium abgeprüft bekommen haben, wollen Eltern auch, dass Lehrer möglichst nur gleich lange studiert haben? Wirklich? Kein Mensch interessiert sich dafür. Und die Prüfungsordnungen der Universitäten verlangen das auch nicht. Aber beim Abitur ist alles anders:

"Die Länder gleichen ihre Rahmenvorgaben für die Gestaltung der Gymnasialen Oberstufe weiter an. Sie legen bis zum Jahr 2023 eine genaue Anzahl verpflichtend zu belegender und in die Gesamtqualifikation einzubringender Fächer einschließlich ihrer Gewichtung fest. Sie verständigen sich darüber hinaus auf eine einheitliche Anzahl zu wählender Fächer auf erhöhtem Anforderungsniveau. Des Weiteren verständigen sich die Länder auf einheitliche Regelungen zur Leistungsermittlung in den vier Schulhalbjahren der Qualifikationsphase." So steht es in den politischen Vorhaben für die nächsten Jahre, auf die sich die Bundesländer am 15.10.2020 verständigt haben.


Nichts gegen, alles für vergleichbare Abschlüsse.

Aber müssen die Wege für einen Jugendlichen mit Fluchterfahrung, für eine Arzttochter mit zweisprachigem Hintergrund, für eine Schülerin mit psychischen Problemen, für einen Gewinner bei "Jugend forscht", für einen Profi-Sportler und eine Gewinnerin bei Jugend-musiziert, für jemand, bei dem gerade die eigene Familie auseinander fällt, wirklich gleich sein? Wieso kann der Mathe-Crack nicht sein Mathe-Abi früher machen und die zweisprachige Schülerin nicht ihr Englisch-Abi ablegen, um sich dann auf Mathe zu konzentrieren? Ist das gerecht? Ist das vergleichbar?


Kein Schulversuch zu "Abitur im eigenen Takt" - warum?

Ein Schulversuch (nur ein Versuch!) zu "Abitur im eigenen Takt" ist bisher nicht einmal beantragt, geschweige denn genehmigt worden. Dabei wurden von der KMK folgende Hürden aufgebaut:

1) Ein Schulversuch, der die Abiturvereinbarung betrifft, muss bei der KMK beantragt werden.

2) So einen Schulversuch kann auch nicht eine Schule beantragen, er kann nur von der Ministerin persönlich beantragt werden.

3) Um einen solchen Schulversuch genehmigt zu bekommen, braucht man in der Ministerrunde eine 3/4-Mehrheit.

Klarer und deutlicher könnte die KMK nicht zum Ausdruck bringen, dass man eigentlich nicht Schritte nach vorwärts sondern nur Schritte zurück gehen will.

Trotzdem haben wir den Antrag auf "Abitur im eigenen Takt" bei unserem Kultusministerium eingereicht. In einem freundlichen Antwortschreiben wurde abgelehnt, es bei der KMK zu beantragen mit folgenden Argumenten:

a) "Abitur im eigenen Takt" widerspreche der KMK-Vereinbarung. - Das stimmt zwar, aber genau deshalb haben wir einen Schulversuch beantragt. Wenn es der KMK-Vereinbarung nicht widersprechen würde, müssten wir gar keinen Schulversuch beantragen.

b) Wenn nur wenige Schulen am Schulversuch teilnehmen würden, wäre dies ungerecht. - Nun war unser Ziel nie, dass nur wenige Schulen am Schulversuch teilnehmen, obwohl zunächst nur vier Schulen den Antrag gestellt haben. Allerdings könnte mit diesem Argument jeder Schulversuch abgelehnt werden, weil letztlich immer wenige Schulen sich - zunächst - an einem solchen Versuch beteiligen.

Zur Rolle der KMK und wie sie "agil" werden könnte, siehe auch den Aufsatz im Buch "Agilität und Bildung": "4.6 Wie müsste die KMK und die Kultusverwaltungen arbeiten, damit agile Formen der Bildung unterstützt werden?"


Doch eine Schule mit "Additivem Abitur"

Übrigens es gibt eine Schule, die hat einen Schulversuch zum "Additiven Abitur" - was eigentlich genau das ist, was wir mit "Abitur im eigenen Takt" meinen, genehmigt bekommen und seit 2019 ist der Schulversuch abgeschlossen und für 1 (in Worten: eine) Schule eine Ausnahmegenehmigung erteilt worden, ausschließlich für Hochleistungssportler*innen als Nachteilsausgleich: Es ist die Eliteschule des Sports in Potsdam. Diese Schule selbst strebt mit uns an, dass auch für weitere Schüler*innen diese Wege eröffnet werden. Kein Langzeitkranker, kein Jugendlicher mit Fluchterfahrung, kein Hochleistungssportler an einer anderen Schule darf dieses Konzept des "Additiven Abiturs" angeboten bekommen. Ist das gerecht? Wenn man einsieht, dass Hochleistungssportler wegen der Teilnahme an internationalen Wettkämpfen eine Ausnahmeregelung brauchen, warum nicht auch die Schülerin, die parallel "Abitur und Gesellenbrief" absolviert.


Deutschland im internationalen Vergleich

Wir sind der Überzeugung, es bedarf dringend eines Konsenses in Deutschland, der die Studien anderer Länder zur vergleichbaren Hochschulzugangsberechtigung auswertet und ernst nimmt. Die Länder mit guten Ergebnissen bei internationalen Bildungs-Vergleichsstudien gehen hier nämlich alle einen anderen Weg - und zwar radikal anders. - Das soll hier nun nicht länger ausgeführt werden. Dazu hat Prof. Dr. Anne Sliwka aus Heidelberg viel geforscht und veröffentlicht.


Flexibilisierung ist mehr

Doch Flexibilisierung ist mehr:  Wir sehen auch, es gibt selbst innerhalb des Deutschen Bildungswesens und mit Segen der KMK noch deutlich mehr Möglichkeiten in der Oberstufe flexibler zu arbeiten und wir fordern alle Schulen auf, diese Möglichkeit aktiv zu nutzen:

Man hat den Eindruck, viele Schulen machen in der Oberstufe Dienst nach Vorschrift und Lehrer*innen schreien genauso nach mehr und ausschließlichem Fachunterricht, nach möglichst vielen einheitlichen Klausuren als Form der Leistungsmessung und nach Übererfüllung aller Vorschriften.

Dabei gibt es Spielräume. Hier sollen nur ein paar Linien grob skizziert werden und Richtungen in die man denken kann:

  1. Werden Sie Zeitfinder: Es ist zwar meist festgelegt, wie viel Fachunterricht in der Oberstufe zu erteilen ist, es ist aber nicht festgelegt, dass alles im klassischen Unterricht erteilt werden muss. Es gibt Schulen, die z.B. 1/3 aller Unterrichtsstunden in ein kluges Freiarbeitskonzept stecken mit sehr vielen verschiedenen Angeboten der Begleitung durch Lehrer*innen. Ein sehr inspirierendes Konzept dabei ist das Dalton-Konzept
  2. Die Einführungsphase der Oberstufe bietet sehr viele Möglichkeiten, flexibler vorzugehen. Hier ist (fast) alles erlaubt: Weitreichende Projektphasen, ausführliche Praktika, Auslandsaufenthalte, Unterrichtsbefreiung einzelner Schüler*innen in bestimmten Fächern und gleichzeitige Förderung in einem anderem Fach in Freiarbeit usw.
  3. Suchen und entwickeln Sie andere Formen der Leistungsmessung: Zwar wird noch viel zu viel auf Klausuren als Instrument der "Vereinheitlichung" im Abitur und in der Oberstufe gesetzt, aber es gibt in vielen Bundesländern viele Möglichkeiten, Klausuren durch andere Formen der Leistungsmessung zu ersetzen. Uns hat selbst der zuständige Jurist im Kultusministerium in Baden-Württemberg geraten: Es ist zwar die Anzahl der Klausuren festgelegt, es ist aber nicht festgelegt, wie lange sie sein müssen, wieviel sie zur Note insgesamt beitragen.
  4. Selbstwirksamkeit stärken durch fächerverbindende Projekte und Lernerfahrungen außerhalb der Schule: Oft wird in den Oberstufen sehr wenig fächerverbindend gearbeitet und Projekte sind häufig nice to have - aber nicht wesentlich für die Vermittlung der zu erreichenden Kompetenzen in den verschiedenen Fächern. Ein gelungenes Beispiel bieten die Pulsare oder die Lernexpeditionen LEX im Konzept der "Neuen Oberstufe" mit denen wir vielfältig vernetzt sind. Ziel muss es sein, fächerverbindendes Lernen und vernetztes Denken als Teil des normalen Unterrichts fest in den Schulalltag,den Jahres- und Wochenplan zu integrieren.
  5. Flexible Laufbahnen ermöglichen für Schüler*innen mit besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten:
    Es gibt sie (noch) nicht, die generelle Flexibilisierung, dennoch ist für bestimmte Zielgruppen im Rahmen des Nachteilsausgleichs doch einiges schon möglich, etwa Schulzeitstreckung für Leistungssportler, aber auch für Musikerinnen,  die Prüfungen geplant etwas entzerren durch Nutzung der Nachtermine für Langzeitkranke u.a.


Der aktuelle Stand

Das alles sind nur einige wenige Gedankenanstöße mit dem Ziel, die Flexible Oberstufe schrittweise zu verwirklichen. Vieles davon sind wir gerade dabei als Ergebnis des Innovationslabors G-Flex, in einer Veröffentlichung im Beltzverlag mit dem Titel: "Die flexible Oberstufe - Wie Schulen Freiräume schaffen und nutzen können" zusammen zu stellen.  Das Buch wird voraussichtlich im September 2021 erscheinen.


Innovationslabor G-Flex

14 Schulen aus 6 Bundesländern: Gemeinschaftsschulen, Integrierte Gesamtschulen und Gymnasien haben nun zwei Jahre mit einander im Innovationslabor "G-Flex" der Deutschen Schulakademie gearbeitet und diskutiert, Modelle entwickelt und zum Teil selbst in Coronazeiten mit der Umsetzung angefangen.

Die 14 beteiligten Schulen sind: Evang. Firstwald-Gymnasium Mössingen und Kusterdingen, Schule Schloss Salem, Carl-von-Weinberg-Schule Frankfurt, Paula-Fürst-Schule Berlin, Klosterschule Hamburg, Jenaplanschule Rostock, Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim, Johannes-Kepler-Gymnasium Ibbenbüren, Leibniz-Montessori-Gymnasium Düsseldorf, Oberstufenkolleg Bielefeld, Robert-Bosch-Gesamtschule Hildesheim; Sportschule Potsdam, Einstein-Gymnasium Rheda-Wiedenbrück

Nähere Informationen zum Innovationslabor findet man hier


Eckpfeiler von "Abitur im eigenen Takt"

Share by: